Organisationsprozess

„Organisationsprobleme“ als Symptome: Wenn der Schuh andernorts drückt.

Ein faszinierendes Phänomen kann ich in meiner Tätigkeit ab und an beobachten: Die durch meine Gesprächspartner thematisierten Herausforderungen sind beispielsweise eine nicht mehr passende Organisationsstruktur oder ineffiziente Prozesse. Im Laufe der Diskussionen zeigt sich aber, dass der Schuh an einem ganz anderen Ort drückt. Warum es völlig normal ist, dass nicht immer alles Organisation ist, dass nicht immer alles Organisation ist, wo Organisation draufsteht.

Wenn Organisation draufsteht, aber nicht Organisation drin ist, sind es in meiner Erfahrung hauptsächlich zwei Themenfelder, welche die echte Herausforderung darstellen: die Führung oder die Strategie.

Die verdeckten Themen Führung und Strategie

Herausforderungen in der Führung sind einfacher erkennbar als solche in der Strategie. Bereits in der Problemskizze sind oft Symptome angedeutet, deren Ursachen aus Erfahrung nicht in der Organisation liegen können. Vielfach sind es auch schwache Signale, welche die Auftraggeber als Personen aussenden, die auf mehr als organisatorische Problemstellungen hindeuten (z. B. wahrgenommene Unsicherheiten und Unklarheiten). Erstaunlicherweise wird in solchen Situationen nicht selten eine breite Organisationsanalyse gewünscht, als wäre subkutan klar, dass es um mehr geht als „nur“ Organisation. Spätestens bei Interviews im Rahmen einer solchen Analyse wird in diesen Fällen das Thema Führung offensichtlich.

Strategische Herausforderungen kommen in der Regel eher später im Bearbeitungsprozess zum Vorschein. Ein Klassiker ist die Diskussion der anwendbaren Gestaltungsprinzipien, bei der es nicht gelingt, eindeutige handlungsleitende Grundsätze für die Neuausrichtung einer Organisation zu definieren. Manchmal sind auch kontroverse Diskussionen im versammelten Managementteam Auslöser für das Aufbrechen der eigentlichen strategischen Fragestellung, die es zuerst zu klären gilt.

Eisberg

Warum nun ist das Thema Organisation in solchen Fällen sozusagen wie die Spitze des Eisbergs, die sichtbar ist, aber viel mehr unter sich verbirgt? Dafür gibt es für mich (mindestens) drei überzeugende Möglichkeiten, die das beschriebene Phänomen hinreichend erklären:

  1. Die erste Erklärung erfolgt aus einer instrumentellen Sichtweise.
  2. Die zweite Erklärung aus einer prozessorientierten Sichtweise.
  3. Die dritte Erklärung schliesslich erfolgt aus einer politischen Sichtweise.

Erstens: Die instrumentelle Erklärung

Bei dieser Erklärung ist der Ausgangspunkt der, dass die Organisation ein Regelsystem ist. Dieses System von Regeln soll in Institutionen und Unternehmen eine zielgerichtete, effektive und effiziente Aufgabenerfüllung ermöglichen (vgl. Wenger/Thom 2021, S. 24 f.). In dem Sinne ist die Organisation das Mittel, mit dem die PS an den Boden gebracht werden.

Ist es da nicht naheliegend, bei Fehlleistungen zuerst auf den Transformationsmechanismus „Organisation“ zu schauen? Gerade auch, wenn die wahrgenommenen Symptome diffus und die Verantwortlichen eigentlich der Überzeugung sind, das Richtige zu tun? Aus meiner Sicht ist das total normal.

Zweitens: Die prozessorientierte Erklärung

Diese Erklärung setzt bei der Frage an, was ein Unternehmen bzw. eine Institution eigentlich ist. Egal von welcher Seite die Antwort kommt: Menschen und ihre Beziehungen untereinander sind fast immer wichtige, konstitutive Elemente der Definition (vgl. Stichworte wie „sozio-technisches System“, „wirtschaftliche, technische, soziale und rechtliche Einheit“, „zielgerichtetes soziales System“ etc., z. B. bei Vahs 2012, S. 17 oder Thommen 2013, S. 39). Soll sich das Unternehmen/ die Institution verändern, müssen sich entsprechend auch die betroffenen Menschen bewegen. Dazu ist Zeit nötig, gerade für das Erkennen und Erfassen der Problemstellung. Vor allem aber auch für das Akzeptieren, dass das Problem nicht unbedingt dort liegt, wo man es vermutet oder vermuten möchte.

Ist es da nicht verständlich, im Falle betrieblicher Fehlleistungen beim unpersönlichen organisatorischen Regelwerk zu beginnen, das klar beschreibbare Eigenschaften hat und normalerweise gut fassbar ist? Statt beim schillernden und nicht immer klar eingrenzbaren Themenbereich Führung, der gleichzeitig untrennbar mit der Funktion der Verantwortlichen verknüpft ist (Führungsverhalten, Führungsvermögen)? Oder bei der unternehmerischen Legitimation bzw. den Entscheiden zum Aufbau nachhaltiger Wettbewerbsvorteile durch die Strategie? Es gibt Fälle, in denen ich dies durchaus nachvollziehen kann. Gerade auch, weil sich die Verantwortlichen selber in einem Prozess befinden.

Drittens: Die politische Erklärung

Die letzte Erklärung wirft ein Licht darauf, dass Unternehmen und Institutionen immer auch politische Gestaltungsräume sind (die Ausführungen von Gareth Morgan in „Images of Organization“ hierzu sind immer noch sehr lesenswert). Interessen, Einsatz von Macht durch Individuen oder Gruppen, politische Aushandlungs- und Konfliktprozesse, Erlangen und Verteidigen von Machtbasen etc. gehören zum betrieblichen Alltag. Und ein zentrales Merkmal der Organisation ist es, die entsprechenden Rollen und Kompetenzen festzulegen.

Wenn betriebliche Fehlleistungen thematisiert werden und sich Veränderungen abzeichnen, ist dies die Gelegenheit, aktiv in das politische Gefüge einzugreifen und dieses im gewünschten Sinne zu beeinflussen (phantastisch hierzu „Power, Politics, and Organizational Change: Winning the Turf Game“ von Dave Buchanan und Richard Badham). Manchmal ist aus Sicht der Verantwortlichen der direkte Weg zum Ziel auch nicht der erfolgsversprechende. Auch mit diesem Erklärungsansatz ist das Voranstellen der Organisation in solchen Situationen für mich durchaus verständlich.

Nicht alles, wo Organisation draufsteht ist auch Organisation: Nachvollziehbar, aber nicht zu ignorieren

Das Thema Organisation wird also zuweilen bewusst oder unbewusst vor andere Themen (namentlich Führung oder Strategie) geschoben. Diese sind die wirklichen Herausforderungen, stehen aber aus durchaus nachvollziehbaren Gründen nicht an erster Stelle.

Was ist in solchen Situation zu tun? Als Grundsatz gilt, dass die echten betrieblichen Herausforderungen im Prozess thematisiert und einer Lösung zugeführt werden. Scheint klar, ist es aber nicht immer. Das Thematisieren ist nicht nur aus dem Bestreben heraus wichtig, Problemzonen wirklich zu beheben statt Symptome zu bekämpfen. Wichtig ist es auch, weil im Unternehmen/ in der Institution sonst bei den Betroffenen Frustrationen entstehen: Es wird zwar reorganisiert, die verbreitet wahrgenommenen echten Themen aber werden nicht adressiert.

Manchmal braucht es zum Thematisieren ganz einfach auch Zeit. Wie mir vor vielen Jahren ein geschätzter Projektleiter jeweils sagte: „Muesch nume luege, wie d’Natur schafft“!

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